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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 6.11.1977
Geistliches Konzert der Nagolder Kantorei
Besinnliche Chor- und Orgelmusik von Bach, Böhm und Schütz in der Stadtkirche

Nagold. Allerheiligen, 835 durch Ludwig den Frommen, Allerseelen, 993 durch Abt Odilo von Cluny eingeführt, der Volkstrauertag, der Bußtag und Totensonntag, seit der Reformation Abschluß des evangelischen Kirchenjahres, prägen den Trauermonat November in besonderem Maß als Mahnung und Besinnung auf das Werden und Vergehen. Ein Themenkreis, um den sich der Mensch im vollen Lebenssaft wenig Kopfzerbrechen macht, der aber für alle Kunstschaffenden von jeher zu einem zentralen Ereignis geworden ist und sicher auch für die Zukunft bleiben wird. Dieser begrenzten Daseinsperiode sind alle Kreaturen in gleicher Weise unterworfen, hier sind dem Fortschritt wie dem materiellen Wohlstand unüberwindbare Grenzen gesetzt. Der Angst der Gebärenden am Anfang folgt die Angst vor dem Tode am Ende des Lebens. Für den religiösen Menschen liegen in dieser Spanne Zeit die Bitten an Gott um Gnade, um Frieden, um Hilfe und Erlösung aus Qual und Not, aber auch die Lobpreisung des Schöpfers für Glücksempfinden und die gewährte Frist des Lebens.
Diese weitgespannte Skala an Lebensinhalten umfaßte in einer beziehungsreichen Vielfalt das geistliche Konzert des Kantorei-Chores, zu dem trotz des sonnenmilden Sonntagnachmittages rund 300 Besucher den Weg fanden. Vier Motetten von Heinrich Schütz (Verleih uns Frieden - Die mit Tränen säen - Herr auf dich traue ich - Die Himmel erzählen) sowie J. S. Bachs große Motette "Jesu meine Freude" standen im Mittelpunkt. Höchst anspruchsvolle Werke, die uns stets die hochkultivierte, ungemein differenzierte Kompositionskunst der Spätrenaissance in Erinnerung rufen, die heute zu interpretieren große Mühen bereitet.
Die vier Schütz-Motetten zählen zwar nicht zu seinen kompliziertesten, verlangen aber eine unserer Gegenwart ungewohnte Einfühlung in das symbolträchtige Wort-Ton-Verhältnis "um die harte Nuß, worin der rechte Kern und das Fundament eines guten Kontrapunktes zu suchen ist, aufzubeißen", wie Schütz es seinen jungen Kollegen empfiehlt. Ein ständig wechselnder, aus dem Sprachmetrum sich ergebender Rhythmus (durch die spätere Takteinteilung verfälscht) als Basis der modulatorischen Spannungsfelder stellt die Interpreten vor Probleme. Sie sind weniger vom Tempo her zu lösen, das Gerhard Kaufmann meistens sehr breit anlegt, als vielmehr von der akzentuierten Deutung der den Wortaussagen unterlegten Symbolfiguren. Je rascher der Chor diesen Vorgang begreift, desto geringer werden die Unsicherheiten vor den häufig asymmetrisch verlaufenden Imitationen der Stimmen, wofür man "die Himmel erzählen" als treffliches Schulbeispiel zitieren kann. Hieraus ergibt sich dann auch der dynamische Ausdruck, ohne ihn horizontal im Sinne eines Crescendo forcieren zu müssen.
Anders liegen die Dinge bei der Bach-Motette, deren elf Teile sich in symmetrischen Abläufen um die fünfstimmige Fuge "Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich" gruppieren. Zweifellos kann man hier auch das Terzett "So aber Christus in euch ist" im schwingenden Zwölfachteltakt ebenso wie die nachfolgende Choralvariation "Gute Nacht, o Wesen" durch Solisten oder kleine Chorgruppen besetzen, was durchaus dem Charakter beider Teile entspricht. Dann jedoch müssen die Sänger ihre Partie sicher beherrschen. Auch bei diesem Werk neigte Gerhard Kaufmann zu gedehnten Tempi, die aber zum Beispiel dem Choral "Unter deinem Schirmen" oder der Variation "Trotz dem alten Drachen" nicht gerecht werden, dessen schnelle Passagen agogische Dehnungen, wie auch den (zum Teil praktizierten) dynamischen Kontrast zulassen (wobei das in Takt 167 deplaciert eingesetzte Forte ein herausgeberischer Lapsus ist!). Der großen Fuge selbst fehlte das überzeugende Pathos; ein singtechnisches Problem freilich, dem aber mit Legatosingen am wenigsten beizukommen ist.
Es gibt viel Lobenswertes zu berichten; nicht nur, daß der Chor den Mut findet, immer wieder die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit abzustecken, sondern auch über seine erstaunlich sichere Intonationsfähigkeit, die gelegentliche leichte Trübungen in den Stimmen rasch überwindet und ohne "Nachstimmen" den Grundton E in der Bach-Motette durchhielt. Zu loben gilt es das füllige Klangvolumen (dem die engkehligen hohen Sopranlagen abträglich sind) sowie das, besonders bei den Schütz-Motetten, konzentrierte Eingehen auf den Dirigenten.
Er bewies wieder einmal mehr seine Fähigkeiten als Organist. Die einem Trauermarsch gleichende Choralbearbeitung "Vater unser im Himmelreich" des Georg Böhm empfing durch drei Kontraste, dem rhythmisierten Pedalbaß, dem aggressiven Zinkregister als cantus firmus und die beides verbindenden weich-gedackten Flöten einen großen Reiz. Als Gegenstück dazu J. S. Bachs dreiteilige "Fantasie G-Dur" mit dem duftigen Präludium, dem pathetischen, weitausholenden Hymnus und auf dem Orgelton toccatenhaft aufrüttelnd-aufsteigenden Finale.
Zwischen den musikalischen Darbietungen rezitierte das Chormitglied Pfarrer Schüll Lektionen aus den Psalmen 42/43 "Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser", nach dem Psalm 130 "Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu dir" und aus der Bergpredigt nach Matthäus 5 in einer Übertragung von Walter Jens. Eine sehr feingestimmte Auslegung des Konzertinhaltes und der eingangs gedeuteten seelischen Einschwingung zur Selbstbesinnung auf das Sein.

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